„Kelly allein unterwegs“ Angsthund entlaufen – was tun?

„Kelly allein unterwegs“

Angsthund entlaufen – was tun?

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Kelly ist eine mittelgroße Mischlingsdame, die Anfang Oktober 2021 aus einem Moskauer Shelter nach Deutschland in ihr neues Zuhause reiste. Sie war das vierte hundische Familienmitglied und vervollständigte das Rudel, das ihr Frauchen – nennen wir sie Lisa – sich bereits als Kind von Herzen gewünscht hatte.

Die Hundedame war im Alter von etwa einem Jahr auf Moskaus Straßen aufgelesen und in den Shelter gebracht worden. Wegen einer Verletzung wurde sie zunächst tierärztlich behandelt, bis sie in eine der zahllosen Sektionen des riesigen Tierheims übersiedeln konnte. Dort blieb sie etwa fünf Jahre lang, bis Lisa sie in den sozialen Medien entdeckte – und nach langem Überlegen entschied: Sie kommt zu uns!

Kelly – schüchtern, verunsichert oder ängstlich?

Die Vermittlerin des Tierschutzvereins beschrieb Kelly als „ein wenig schüchtern“. Dies entsprach nicht wirklich den Tatsachen. Lisa ist sich bis heute noch nicht sicher, wie sie ihren jüngst zugezogenen Schützling einordnen soll.

„Sie schwankt zwischen Scheu und Dreistigkeit, zwischen ducken und Decken zerfetzen. Mal habe ich Zugang zu ihr, mal nicht. Sie hatte anfangs große Probleme damit, anzukommen, und hat mich die ersten Nächte im Zuhause viel, viel Schlaf gekostet. Ich kenne mich wirklich mit Angsthunden aus, weiß, dass sie je nach Vorgeschichte und Charakter Monate oder sogar Jahre brauchen, um auch mental anzukommen. Aber dass ich seit ihrer Ankunft nicht einmal eine Nacht mehr schlafen konnte, war neu. Und auf Dauer sehr zermürbend. Sie weinte und grollte in ihrer geschlossenen Box, die wir ihr als Rückzugsort zur Verfügung gestellt hatten. Machte ich die Box auf, wanderte sie stundenlang durch das Erdgeschoss. Das pausenlose Klacken ihrer Krallen auf dem Parkett und den Fliesen hat mich an den Rand des Wahnsinns getrieben. Also habe ich sie wieder in ihre Box gelotst und die Tür geschlossen. Und dann fing das Weinen und Grollen wieder an. Ich habe manchmal vor Frust wirklich geweint. Ich war restlos erschöpft.“

Lisa achtete sorgfältig darauf, Kelly nicht zu viel zuzumuten und ihr das Einleben so gut es ging zu erleichtern. Ihre drei anderen Hunde – ebenfalls Tierschutzhunde aus dem Ausland – waren mehr oder weniger hilfreich dabei. Lisa ging zunächst mit Kelly allein spazieren, um das gegenseitige Kennenlernen zu erleichtern und ihr Raum und Zeit zu geben.

„So etwas wie eine Bindung haben wir bis heute nicht aufgebaut“, gesteht Lisa. „Sie ist jetzt vier Monate bei uns, es hat sich bisher nur wenig geändert. Aber sie bekommt alle Zeit der Welt von uns. Unser Rüde, ein Angsthase per excellence, hat über ein Jahr gebraucht, bis er es wagte, auf die Wohnzimmercouch zu klettern und es sich neben uns gemütlich zu machen.“

Ein Outdoor-Dog sucht einen Ausweg

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Was Lisa von Anfang an auffiel und ihr auch manches Mal viel Frust bescherte: Kelly wollte weg! Sie stand im Haus vor der Terrassentür, sie checkte im Garten, ob es irgendwo einen Ausgang gäbe. Sie lief an der Leine recht gut mit, das hatten die Betreuerinnen im Shelter mit ihr ein wenig trainiert. Aber nur, solange es vom Haus fort ging. Auf dem Rückweg trödelte sie endlos, blickte sich häufig um und blieb oft einfach stehen – mit dem Rücken zu Lisa, in die entgegengesetzte Richtung schauend. Sie wollte nicht zurück und musste freundlich-bestimmt zum Mitkommen überredet werden.

„Ich denke, es liegt einfach an ihrer Vergangenheit“, sagt Lisa. „Sie wird nie in einem Haus gelebt haben, immer nur draußen gewesen sein. Der Shelter bzw. der Kennel kann mit einem Zimmer nicht einmal ansatzweise verglichen werden. Sie ist wohl einfach ein Outdoor-Hund. Ich könnte mir vorstellen, dass sie mit einer Hundehütte im Garten glücklicher wäre als mit einem weichen Kuschelkorb vor dem Kamin. Vermutlich werden mein Mann und ich ihr über kurz oder lang – zum Sommer hin – eine Hundehütte zur Verfügung stellen und schauen, ob wir mit unserer Vermutung richtig liegen.“

Obwohl Lisa alle Sicherheitsvorkehrungen sorgfältig beachtete, um eine Flucht zu verhindern – Kelly schaffte es nach knapp zwei Wochen im neuen Zuhause trotzdem in die Freiheit. Lisa zog ihr gerade im Hausflur das Sicherheitsgeschirr an, als ihr Mann unangekündigt von draußen hereinkam. Die anderen drei Hunde, die sich bis dahin zurückgehalten hatten, stürmten durch den Flur begeistert auf ihn zu, Lisa schaute irritiert hoch, lockerte unbewusst kurz den Griff – und Kelly schlüpfte aus dem noch nicht geschlossenen Geschirr durch die Beine ihres Herrchens nach draußen. Sie schaute noch einmal kurz zu ihrem Frauchen zurück und verschwand dann um die Hausecke. Weg war sie.

Kelly will nicht nach Hause…

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Lisa und ihr Mann versuchten zunächst allein, die scheue Hündin wieder nach Hause zu holen – Lisa auf dem Fahrrad, ihr Mann mit dem Auto. Ihr Haus befindet sich an einer Wohn- und Anliegerstraße, die an einem quer verlaufenden Feldweg endet. Dahinter befinden sich Weiden und Äcker und kleinere bewaldete Flächen. Wenig Verkehr, aber viele Menschen mit Hund. Wenig Autos, aber rasante Fahrer. Lisa machte sich Sorgen. Konnte Kelly auf sich aufpassen?

Die Hündin war nie weit weg, stromerte herum und wurde immer wieder gesichtet. Ein Bewohner der Straße wollte helfen und lief Kelly eine ganze Weile hinterher, obwohl Lisa ihn ausdrücklich gebeten hatte, sie in Ruhe zu lassen. Der Mann kehrte irgendwann um. „Die hört ja überhaupt nicht!“, schimpfte er. Lisa schüttelte den Kopf. „Sie vertraut ja nicht einmal mir – warum sollte sie auf dich hören?“ Ihr Mann meldete sich kurz darauf via Handy vom Auto aus: „Sie ist jetzt an der Stelle XY. Wenn ich auf sie zugehe, läuft sie weg. Ich habe versucht, unsere Marla als Lockvogel einzusetzen, aber auch das hilft nicht.“ Lisa radelte zu der angegebenen Strecke und war voller Hoffnung, als Kelly fast drei Kilometer weit neben ihrem Fahrrad hertrottete – Richtung Heimat. Doch als Lisa in die Wohnstraße abbog, drehte Kelly ab und verschwand hinter einer Baumreihe.

Kurz darauf brachen Lisa und ihr Mann die Suche ab. Es wurde dunkel, und sie konnten ohnehin nichts mehr tun. Sie riefen bei Tasso an und meldeten Kelly als vermisst. Dann riefen sie die Vermittlerin des Tierschutzvereins an und berichteten, was passiert war. Die Vermittlerin riet ihnen, ein Hundesicherungsteam einzubinden. „Die haben ganz andere Möglichkeiten“, sagte sie. „Kelly werdet ihr so nie einfangen, sie läuft ja immer vor euch weg. Ich denke, eine Lebendfalle ist die einzige Option!“

Wie arbeitet ein Hunde-Sicherungsteam? Der Fall „Kelly“

„Was ich Margitta vom Hundesicherungsteam sehr hoch anrechne, ist ihre absolute Ruhe“, sagt Lisa. „Ich war total aufgelöst, und die Tipps von Tasso haben mich offen gestanden gar nicht überzeugt. Ja, sie stellten in Nullkommanix Suchplakate zur Verfügung, die ich ausdrucken und aufhängen konnte. Sie rieten mir, Tierarztpraxen und Tierheime zu kontaktieren und ihnen die Flyer zuzuschicken. Wir sollten über Nacht eine Tür offen lassen, Kellys Decke davor legen und Futter hinstellen, damit sie jederzeit ins Haus gehen konnte. Aber Kelly ins Haus? Freiwillig niemals! Sie wollte doch draußen sein, und nicht bei uns im Zimmer!“

Der Anruf beim Hundesicherungsteam am nächsten Morgen versprach greifbare Hilfe. Margitta hatte Ideen. Sie hatte Erfahrung. Und sie hatte eine Lebendfalle. Sie instruierte Lisa genau: Futterstellen einrichten und mit Brühe Spuren auslegen – sternförmig von dem Platz aus, wo später die Falle stehen soll. Mindestens einen Kilometer im Umkreis. „Nimm Katzenfutter! Darauf stehen Hunde extrem!“ Lisa war den restlichen Tag über gut beschäftigt und fuhr kilometerweit mit dem Rad, um die Spuren auszulegen. Nachmittags fuhren sie und ihr Mann zu Margitta und holten die Falle ab. Das sperrige Ding benötigte den gesamten Platz im Kofferraum des großen SUV inklusive umgeklappter Rücksitzbank. Margitta gab noch frisch gebrutzelte Hähnchennuggets und Kebab, mehrere Flaschen mit Brühe und zwei Dosen Katzenfutter dazu.

Gemeinsam mit ihrem Mann stellte Lisa abends die wuchtige Falle unter dem Carport auf und verteilte Nuggets und Kebab bis zum Tritt, der die Tür auslöst. Die Live-Cam wurde aktiviert, dann gingen sie ins Haus und warteten.

Endspurt: Kelly soll nach Hause!

Die zweite Nacht ohne Kelly stand bevor. Es war Mitte Oktober, es wurde früh dunkel, es war kalt und es regnete viel. Lisa machte sich Sorgen, aber Margitta tröstete sie: Kelly war nie weit weg. Sie hat laut Lisas Mann sogar einmal in der Einfahrt gestanden. Sie wisse, wohin sie gehöre. „Das klappt!“

Am nächsten Morgen meldete sich Margitta kurz per WhatsApp: keine Kelly, dafür Mäuse, die sich das leckere Fleisch geholt hatten. Etwas später ging Lisa mit ihren anderen Hunden Gassi und wurde ein ganzes Stück von Kelly begleitet. Aber anstatt mit ihrer Familie nach Hause zu gehen, lief Kelly einfach weiter und besuchte die Nachbarschaft. Lisa bestückte die Falle neu, legte frische Spuren auf der Einfahrt aus und ging wieder ins Haus.

Keine halbe Stunde später hörte sie ein lautes Geräusch von draußen, eine Art metallisches Rauschen. War die Klappe der Lebendfalle zugefahren? Hatte Kelly den Auslöser erwischt? Lisa rannte zum Fenster – und weinte vor Erleichterung: Kelly saß in der Falle!

Mit der tatkräftigen Unterstützung einer Nachbarin holten Lisa und ihr Mann die Falle samt Hund ins Haus und öffneten erst im geschützten Bereich die Tür. Kelly war tiefenentspannt, lief sogar noch mehrere Mal in die Falle hinein, um zu prüfen, ob sich die Futtervorräte vielleicht von allein wieder aufgefüllt hatten. Abends wurde die Falle zum Hundsicherungsteam zurückgebracht. Da das Team ehrenamtlich arbeitet, gab es keine Rechnung zu bezahlen, und Lisa und ihr Mann bedankten sich mit einer großzügigen Spende.

Hat Kelly sich durch ihr Abenteuer irgendwie verändert?

Lisa grinst. „Ja, hat sie. Sie weint nachts nicht mehr. Sie stromert auch nicht mehr durchs Haus auf der Suche nach einem Ausgang in die vermeintliche Freiheit. Sie lässt mich schlafen. Sie wird mutiger. Neulich stand sie fast schon in der Küche, um zu sehen, wie weit ich mit ihrem Abendessen bin. Das Anleinen ist einfacher geworden, sie drückt sich nicht mehr in die Ecke. Sie spielt draußen mit unseren anderen Hunden. Sie ist zwar mental noch weit weg vom Zuhause-Sein, aber ihr ‚Ausflug‘ scheint ihr klar gemacht zu haben, dass es bei uns doch gar nicht sooo schlecht ist. Und dass sie es hätte schlimmer treffen können.“

Wir hoffen, euch hat unser Blogartikel gefallen! Bei Ideen, Anregungen oder Korrekturwünschen bitten wir um einen Kommentar 🙂

Euer 4Pfoten-Urlaub-Team

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